Der potenzielle Brexit – und die Folgen für Großbritannien, Europa und Deutschland
In rund sechs Wochen werden die britischen Bürger über ihren Verbleib in der Europäischen Union abstimmen. Auch wenn die Befürworter des Verbleibs in den aktuellen Umfragen vorne liegen, wird insgesamt ein knappes Ergebnis erwartet, was die Unsicherheit und Spannung im Vorfeld des Referendums erhöht. Um Unentschlossene für sich zu gewinnen, überbieten sich derzeit die Werbekampagnen für und gegen Europa mit den düstersten Warnungen, was Großbritannien als Folge einer Trennung oder des Verbleibs in einer kriselnden EU blühen wird. Doch werden die Folgen eines Brexits wirklich so dramatisch sein, wie es uns manche Experten glauben lassen wollen? Betrachten wir die Fakten: Zum einen geht es um die wirtschaftlichen Folgen und zum anderen um den europäischen Integrationsprozess.
Meinungsforscher haben ermittelt, dass sich die meisten britischen Wähler beim Referendum davon leiten lassen, was der Austritt oder der Verbleib in der EU vermutlich für ihr persönliches Einkommen bedeutet. In diese Kerbe schlug unlängst der britische Schatzkanzler Osborne mit einer ausführlichen Studie des Finanzministeriums, welche zu einem einfachen und plakativen Ergebnis kommt: Den britischen Bürgern wird es nach einem EU-Austritt langfristig schlechter gehen, und zwar um 4.300 Pfund pro Jahr und pro Haushalt.
Die Gründe für diese gravierenden wirtschaftlichen Nachteile liegen darin, dass viele US-Unternehmen, welche heute ihren EU-Standort in Großbritannien haben, ihren Firmensitz nach einem Brexit in andere EU-Staaten verlagern werden. Zusätzlich wird die dann kleinere EU insgesamt als Investitionsstandort unattraktiver, was Europa als Ganzes schadet. Auch wird London als führender und zentraler europäischer Finanzplatz an Bedeutung verlieren, was die Finanzplätze Frankfurt und Paris ganz sicher erfreut. Weiterhin wird ein Brexit auch den britischen Außenhandel beeinträchtigen. Nur wenn die britische Wirtschaft vollständig in den EU-Binnenmarkt integriert bliebe, wäre der wirtschaftliche Schaden begrenzt. Das ist im Falle eines Brexit aber kaum zu erwarten.
Ganz anders sehen das natürlich die britischen EU-Gegner. Sie kritisierten die Berechnungen des Finanzministeriums als fehlerhaft und verweisen auf die bekannten Schwächen der EU, wie die Bevormundungs-, Flüchtlings-, Migrations- sowie die Schuldenpolitik und betonen, dass auch die vielen Einwanderer daran Schuld seien, dass die Briten für sich selbst kaum bezahlbaren Wohnraum und für ihre Kinder oft keinen Platz in der Wunschschule finden. Die subtile Botschaft der EU-Gegner: Raus aus der EU mit ihren offenen Grenzen - uns selbst und dem Nachwuchs zuliebe.
Die europäischen Partnerstaaten plagen demgegenüber weniger die wirtschaftlichen Sorgen um die Auswirkungen eines EU-Austritts Großbritanniens. Ein Brexit bedeutet vielmehr einen schweren Rückschlag für das Projekt der europäischen Integration. Hier könnte es zwar in den Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Migrations- und Umweltpolitik leichter werden, sich auf gemeinsames Handeln zu einigen. Aber in der Wirtschaftspolitik würde es insbesondere für Deutschland schwerer, Freihandel weiterhin durchzusetzen und Protektionismus sowie übermäßige Schuldenmacherei zu verhindern.
Die Staatengruppe innerhalb der EU, welche Protektionismus ablehnt und für Freihandel verbunden mit soliden Staatsfinanzen eintritt, verfügt momentan über 32% der Stimmen im EU-Rat (Großbritannien, Irland, baltische und skandinavische Mitgliedstaaten, Niederlande, Tschechien, Slowakei). Gemeinsam mit Deutschland, das über weitere 8% der Stimmen verfügt, können gegenläufige Maßnahmen durch die Sperrminorität (35%) blockiert werden. Deutschland hat hier momentan eine starke Position, kann zwischen den Mitgliedstaaten vermitteln und dabei versuchen, einen Konsens herbeizuführen.
Ohne das Vereinigte Königreich sinkt der Stimmenanteil dieser tendenziell liberalen Gruppe unter die EU-Sperrminorität und die Interessenkonflikte unter den Nord- und Südeuropäern könnten in unüberwindbare Dimensionen steigen. Manche Beobachter prophezeien darin schon den Anfang vom Ende des Euro.
Was bleibt nun als Fazit festzuhalten und wie sollten sich die Anleger auf einen potenziellen Brexit einstellen?
Im Falle des Brexit müsste Europa seine Identität neu definieren. Die neue EU wäre schließlich kleiner und ihr Charakter würde sich verändern. Südeuropa würde vermutlich an Einfluss gewinnen, Deutschland verlieren. In der Wirtschaftspolitik würde es dann mehr Interventionen und weniger Marktwirtschaft geben. Im Ergebnis könnte es im schlimmsten Fall zu weiteren Austritten aus der Gemeinschaft kommen.
Aber auch nach einem denkbaren Brexit würde sich die Lage mittel- bis langfristig wieder beruhigen. Denn letztendlich bleiben die EU und Großbritannien geographische Nachbarn und aufeinander angewiesen. Beide Seiten können sich schon aus sicherheitspolitischen Gründen keine dauerhafte Konfrontation leisten und niemand hat ein Interesse, dass wegen des Brexit ganz Europa zerfällt. Insofern könnte sich ein Brexit am Ende des Tages auch als ein reinigendes Gewitter herausstellen und eine Chance für die verbleibende EU sein.
Was die Auswirkungen eines Brexit auf die Finanzmärkte angeht, so erscheinen diese insgesamt überschaubar. Natürlich könnte ein Brexit wegen der negativen Auswirkungen auf das britische und europäische Wirtschaftswachstum zu Kursrückgängen an den betroffenen Aktienmärkten führen. Wegen der relativ geringen Bedeutung der europäischen Börsen (nur rund 20%-Anteil am globalen Aktienmarkt nach Marktkapitalisierung) wäre dies aber noch lange keine Katastrophe. Entsprechend ist auch keine weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise infolge eines Brexit zu erwarten.