Das Vereinigte Königreich wählt den Brexit – ist das der Anfang vom Ende der EU?
Natürlich war allen Beobachtern klar, dass der Ausgang des britischen Brexit-Referendums eine knappe Sache werden würde. Aber niemand wollte so richtig an einen Wahlsieg des Brexit-Lagers glauben. Sowohl die Buchmacher als auch die Kapitalmärkte gingen bis zum Tag der Abstimmung mit großer Selbstsicherheit von einem Erfolg der Europa-Befürworter aus und wurden dementsprechend auf dem falschen Fuß erwischt. Die Börsenreaktionen des nächsten Tages fielen entsprechend negativ und heftig aus. Zu Recht? Hier scheiden sich wie so häufig die Geister.
Das eine Lager prognostiziert einen erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden für Großbritannien und einen zwar kleineren, aber immer noch beträchtlichen Schaden für den Rest Europas und damit auch für die Weltwirtschaft. So werde das Vereinigte Königreich eine tiefe Rezession durchlaufen und im nächsten Jahr bis zu 5% an Wachstum verlieren. Die EU der verbleibenden 27 Länder werde es zwar weniger hart treffen, aber auch dort sei mit Wachstumseinbußen von rund 0,5% zu rechnen.
Erstaunlicherweise scheinen dies viele Aktieninvestoren nach dem ersten Schock anders zu sehen. So notieren US-Aktien, die mehr als die Hälfte des Kurswertes des Welt-Aktienmarktes ausmachen, bereits wieder nahe ihren Vor-Brexit-Höchstständen und auch der britische Aktienmarkt zeigt sich sehr gut erholt. Lediglich das britische Pfund und die europäischen Aktienmärkte befinden sich momentan noch in Katerstimmung. Wie lässt sich diese Marktentwicklung interpretieren?
Offensichtlich scheinen sich die Marktteilnehmer zumindest um die britische und amerikanische Konjunktur sowie die betreffenden Aktien keine großen Sorgen zu machen. Diese blicken eher skeptisch auf die EU27, obwohl deren Wirtschaft doch weit weniger unter einem Brexit leiden soll als die des Vereinigten Königreiches. Eine Erklärung könnte sein, dass in Bezug auf die EU27 stärker die politischen Risiken im Vordergrund stehen, als die Sorge um die möglichen negativen wirtschaftlichen Folgen. In jedem Fall scheinen die Märkte sich derzeit mehr um die politische Stabilität der EU27 zu sorgen als um die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens.
Betrachten wir die Ausgangslage: Das Vereinigte Königreich steht derzeit konjunkturell so stark da wie seit fast 10 Jahren nicht mehr. Demgegenüber will der Wachstumsfunke in der EU27 nach wie vor nicht so richtig überspringen. Es gibt noch immer keine nennenswerten Fortschritte bei der Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa. Und auch an der hohen Staatsverschuldung in vielen EU27-Ländern hat sich in den letzten Jahren nichts geändert. Dieses Thema wird momentan lediglich durch die Anleihekäufe und die Geldschwemme der EZB übertüncht. Zu allem Überfluss ist sich die EU27 auch noch uneinig, wie man die anstehenden Probleme lösen sollte. Der Süden fordert neue kreditfinanzierte Konjunkturprogramme und strebt eine Gemeinschaftshaftung für die staatlichen Kredite an. Der europäische Norden spricht sich eher für das Gegenteil aus und fordert stärkere Reform- und Sparanstrengungen der südeuropäischen Partnerstaaten. Vor diesem Hintergrund scheint es ganz so, als ob sich eher die EU, als das Vereinigte Königreich in der schwächeren Ausgangssituation befindet.
Im Ergebnis sehen auch wir nach dem überraschenden Brexit-Votum der Briten stärkere politische Risiken für die EU27 als größere Konjunkturauswirkungen für die Weltwirtschaft. Da unsere Kundenportfolios weltweit gestreut sind und der europäische Aktienmarkt nur ein vergleichsweise geringes Gewicht in unseren Kundenportfolios darstellt, sehen wir aktuell keinen direkten „Brexit-Handlungsbedarf“.